Albrecht Nitsch erzählt Teil II

Albrecht Nitsch erzählt II  - Nachriegslage 1946 - 1953

Der Alltag damals - Grundversorgung
Es wurde überall gehandelt, gekungelt in einem Ausmaß, das man heute überhaupt nicht mehr kennt bzw. sich vorstellen kann. Alle Sachen waren entweder zu gebrauchen oder zum Handeln, zum Tausch geeignet. Gegen kalte Mauken (Füße) oder Hände wurden selbstgestrickte Socken oder Hanschen (Handschuhe) aus Schafswolle angezogen. Abfall im heutigen Sinn und Umfang gab es nicht.

nitsch 14So wurde die Ackerfläche zwischen Heerstraße, Im Hohen Feld und Feldstraße ein großer Schrebergarten für die Grundversorgung der Betroffenen. Beim Bäcker und Schlachter musste man im Regelfall anstehen, um Ware zu bekommen. Kuchen gab es auch schon wieder. Man ging auch nicht zum Bäcker oder Schlachter, sondern es hieß im Hannöverschen: „Nachem Bäcker gaahn“. Man kauft auch keinen Rübensirup, sondern Zapp. An besonderen Tagen wurde beim Bäcker Kuchen gebacken. Dann wurde zu Hause der Teig vorbereitet, vom Bäcker Backbleche geliehen und per Bollerwagen (Handwagen) - damals ein typisches Gefährt der Dorfbewohner auf den Dorfstraßen - wurden die mit Kuchen belegten Bleche zum Bäcker gebracht - nach Vorbestellung - versteht sich. Es wurden zu jener Zeit Unmengen an Kuchen gegessen; heute würden diese Mengen als nicht essbar angesehen werden. Und Kaffeetassen gab es ja auch nicht. Wie kam man zum Beispiel an Tassen? Man sammelte Sammeltassen. Schön bunt, in allen Farben und Formen gab es sie zum Geburtstag. Heute kann man diese Exemplare auf dem Trödelmarkt spottbillig erstehen.


Was war für uns Pökse (Kinder) damals ein Ereignis? Beispielsweise verursachte die jährliche Teerung der Dorfstraße einen Kinderauflauf: Die Straßen waren zu jener Zeit echte Flickwerke, auch die damals gewölbt gebaute Heerstraße. Löcher im Schotter bestimmten neben geteerten Flecken das Straßenmuster. Daher fand im Sommer stets eine Reparatur statt, die viele Kinder in den Bann zog. Der Geruch der stinkenden Teeröfen ist mir noch in guter Erinnerung. Die Fußwege waren zwar von Bordsteinen eingefasst, bei Regen, wenn es so richtig gegallert hatte, waren sie allerdings Patschwege mit Kallermatsch, da sie nicht gepflastert waren. Die Straßengossen wurden zum Wochenende von den jeweiligen Hausbesitzern gereinigt. Es war immer so viel Sand in der Gosse, dass wir Kinder bei starken Regenfällen kleine Dämme bauen und das Wasser stauen und im Kallermatsch, auch Matschepampe, rumme stokeln konnten. Das machte bannig Spaß.
Die Kreuzung Hagenstraße / Hagenbrink nannten wir damals Rundteil. Diese Straßenkreuzung war nie rund, auch heute nicht. Sie hatte aber diesen Namen und war Treffpunkt für uns Panzen (eine weitere Bezeichnung für Kinder). Hier spielten wir auf der Straße, selten unterbrochen durch Autos oder andere Gefährte: Knicker ditschen im sandigen Randbereich. Seilspringen und Hinkepott sowie Ballproben bevorzugten die Mädchen. Pindop (Kreisel) spielen war etwas für alle und das Puckspiel war mehr etwas für die Jungen. Und wer sich nicht ganz dösig anstellte, kein Döllmer oder Töffel war, war mit dabei. Und wer zu langsam war, wurde angetrieben mit der allseits verständlichen Aufforderung „Jetzte mach hinne“. Spiele, die man heute nicht mehr sieht und kennt.
NigrinFür Schuhcreme machte die Firma Nigra mit Männern Reklame, die auf hohen Stelzen durch Oldendorf liefen und an uns Kinder kleine Werbegeschenke in Form von knackenden Blech-Fröschen verteilten. Kinderscharen prägten dann das Straßenbild. Mächtigen Auflauf gab es auch, wenn Männer mit einer Drehorgel, die auf einem Bollerwagen war, durch die Straßen zogen und sich so den Lebensunterhalt verdienten. Auch tanzende Bären wurden einmal im Dorf in gleicher Weise vorgeführt. Dreirädrige Autos, Kleintransporter, waren mit Haushaltsutensilien übervoll mit Pötten, Bürsten und Witschequasten (großer Malerpinsel) behängt, wie wir es heute von Fernsehberichten aus z. B. Indien noch sehen können. Auch diese Ware wurde noch Mitte der 1950er Jahre in der Form angeboten. In der Gastwirtschaft Funke, später Sporleder, gab es ein Kino. Etwa 20 Pfennige, das waren zwaa Groschen, kostete der Eintritt. Aber dieser Preis war für uns viel zu hoch und ich war in Oldendorf nur einmal im Kino. Der Arbeitslohn für Frauen, die bei den Feldarbeiten aushalfen, betrug damals ca. 30 bis 50 Pfennige (= 3 bis 5 Groschen) pro Stunde.


Landwirtschaft

Pflanzenschutzmittel gab es damals nicht. Die Kartoffelfelder waren aber sehr stark von Kartoffelkäfern befallen und es drohten totale Ernteverluste. Also organisierte die Gemeinde Frauen und Kinder, die mit Blechbüchsen ausgestattet per Hand die stinkenden Kartoffelkäfer und Larven von den Pflanzen sammelten. Der Lohn war äußerst gering.
nitsch 3Ich erinnere mich: Das dörfliche Alltagsbild war vorwiegend von den landwirtschaftlichen Tätigkeiten bestimmt inklusive der vor- und nachgelagerten Handwerksbereiche. Pferdewagen, es handelte sich um Ackerwagen in kompletter Holzbauweise, deren Holzräder mit einem Eisenring bereift waren. Viele Arbeitskräfte, die oftmals, aber nicht immer Platt sprachen, nicht selten auch noch Knechte genannt, wenn sie vor allem unverheiratet waren, waren ständig auf den Höfen. Die Arbeit in der Landwirtschaft war damals körperlich schwer, staubig, schmutzig. Handarbeit herrschte vor und stand in Konkurrenz zur mehr mechanisierten Arbeit in anderen Berufen. Die schlechte Bezahlung kam hinzu. Höchster Technisierungsgrad war der berühmte Lanz Bulldog, den auch Heuers hatten. Eine reine Zugmaschine ohne weitere Technik wie Hydraulikantriebe und sonstige Pinökel. Erntefeste wurden auf jedem Hof gefeiert, wenn der letzte Erntewagen mit geflochtener Erntekrone eingeholt worden war. Die Erntekronen wurden dann meistens bis zum nächsten Jahr in der Diele aufgehängt. Im Winter wurden die eingelagerten Getreidegarben gedroschen. Und wieder halfen in dem Möllm (Staub und Dreck) die Frauen. Der Ruf dieses Berufsstandes galt damals im Vergleich zu den anderen Berufsfeldern als eher rückständig, wo sich manch ein Döllmer aufhalten konnte. Zu geringer Grad an Technisierung. Die Abwanderung aus der Landwirtschaft nahm schon damals ihren Anfang. Höfe wurden stillgelegt, das Land verpachtet oder verkauft. Man sieht heute noch in allen Dörfern die einst kleinen Höfe mit den Scheunentoren oder Tierställen, die heute keine Funktion mehr haben oder auf andere Weise genutzt werden. Heute, im Jahr 2022 wird der Landwirtschaft der zu hohe Grad der Technisierung als „industrielle Landwirtschaft“ vorgehalten. Und für die jüngere Generation zum Vergleich: Damals gab es keine Diskussionen über Laktose Unverträglichkeit, zu hohen Fleisch- und Zuckerverzehr oder gar eine Werbung für eine „.. nachhaltige Offensive“ des VFL Wolfsburg wie aktuell: „Wow, no cow!“ der VFL wird kuhmilchfrei“ 19.5.2022 NDR. Damals undenkbar, dieser heutige Überfluss durch eine hochtechnisierte Landwirtschaft, in der nur noch wenige, aber professionell ausgebildete Arbeitskräfte tätig sind.


Impftermine

Ach ja, noch eine Erinnerung: Die Impftermine, damals wichtig und nicht umstritten wie heute, sondern begehrt - wurden für uns in der Kreisstadt Hameln wahrgenommen. Doch wie kam man dort hin? Der Werkstattbesitzer, Herr Habenicht, Heerstraße) hatte ein Auto mit Anhänger. Er sammelte so viele Personen in sein Auto ein, bis wirklich keiner mehr hineinpasste und dann wurden weitere Personen auf den kleinen, offenen und ungefederten Anhänger geladen - ohne jegliche Sicherungen. Ab ging die Fahrt auf der holprigen Heerstraße in das 25 Kilometer entfernte Hameln. Von einem Unfall habe ich nie etwas gehört.
Ich habe noch das Bild vor mir, wie Eltern mit ihrem an Kinderlähmung erkrankten Kind, eingehüllt in Decken, mit dem Motorrad zur Behandlung ins Krankenhaus nach Hameln fuhren. Das Kind überlebte nicht.


Auto

Autos gab es in Oldendorf nur sehr wenige. Als dann etwa 1950 der Nachbar, Schlachtermeister Mund, einen neuen, chromblitzenden Opel Kapitän bekam, gab es einen Straßenauflauf. Das Autokennzeichen lautete nicht HM- …, sondern BN 32 …, also Britisch Niedersachsen und die 32 stand für den Kreis Hameln. Das ganze Dorf war versammelt und bestaunte das neue funkelnde Objekt vor der Schlachterei auf der Hagenstraße. Damals konnte sich kaum einer vorstellen, dass einmal fast jeder Besitzer eines Autos werden würde. Auch Heuers besaßen bis etwa 1952 kein Auto, sondern nur ein Motorrad. Entsprechend nachgefragt waren auch noch in den 1960er Jahren Busse und Bahnen. Als Fahrschüler im Jahr 1953 habe ich noch gut in Erinnerung, wie der Schülerzug morgens und nachmittags vollbesetzt war und um einen Sitzplatz gerungen wurde. Kam der Zug auf dem Bahnhof Osterwald nachmittags wieder an, strömte eine Menschentraube gen Norden zu Fuß nach Osterwald, eine noch größere in Richtung Oldendorf und eine dritte in Richtung des Nachbardorfes Benstorf.
Eindrucksvoll war für uns Kinder eines Tages der Scheunenbrand bei Freise. Eine Menschenansammlung an der Heerstraße verfolgte die Löscharbeiten der Feuerwehr, die das Gebäude nicht retten konnte, so dass der Giebel mit einem Mal zusammenbrach.
Ich erinnere mich an zwei Hochzeiten: Bei der einen ging die Hochzeitsgesellschaft zu Fuß vom Hagenbrink zur Kirche. Die Braut in Weiß, der Bräutigam im schwarzen Anzug und Zylinder. Kinder spannten auf dem Weg zur Kirche Seile über die Straße, stoppten den Hochzeitszug, bekamen vom Bräutigam Süßigkeiten und dann erst ging es wieder weiter. Später fuhr eine andere Hochzeitsgesellschaft vom Hagenbrink bereits mit einem Bus zur Kirche.


Friedhof

nitsch 8Erinnern kann ich mich auch an den von Pferden gezogenen Leichenwagen, der sonst in der Friedhofskapelle stand. Auf dem Friedhof, ist ein Denkmal für die Gefallenen und Vermissten des Zweiten Weltkrieges errichtet worden. Auf dem Gedenkstein ist auch mein Großvater, Wilhelm Nitsch, angeführt, der beim Kampf um Königsberg in seinem Heimatort umgekommen ist. Auf dem Friedhof fällt es heute auf, dass große Flächen eingeebnet sind und die einstigen Familiengräber – ein Kennzeichen alt eingessener Familien - in der damaligen Form nicht mehr fortgeführt werden. Auch an diesem Ort spiegelt sich die neue Wanderungsbewegung auch für einheimische Familien wider.
Im Winter gab es noch keine Schneepflüge, die die Straßen frei hielten. Da wurde mit der Hand geschaufelt oder es wurde eben gewartet, bis der Schnee wieder schmolz. Die Dörfer hatten auch keine Schwimmbäder. Hameln und Hildesheim hatten diese Einrichtungen. Wer im Sommer baden wollte, ging in die Saale am Wehr vor der Saalemühle. Die enthielt alle Abwässer der zuvor gelegenen Dörfer. An spezifische Erkrankungen kann ich mich nicht erinnern. Und in dem Zusammenhang: eine Apotheke gab es im Dorf auch nicht. Medikamente konnte man mit dem Rezept bestellen und ein Bote fuhr per Fahrrad mit den gesammelten Rezepten nach Salzhemmendorf und brachte die Medikamente zu bestimmten Zeiten zur Ausgabestelle in Funkes Gasthof .


Stromversorgung

I00 1934 3a Shdf  OldendfDa fällt mir noch etwas zur Stromversorgung für Oldendorf und Umgebung ein: Es gab eine größere Überlandleitung von Hameln nach Oldendorf. Die Strommenge aus dieser Leitung reichte zur Versorgung des Dorfes nicht. Die Leistung war so gering, dass das Flackern der Glühlampen oder auch der Stromausfall etwas sehr Selbstverständliches im Dorf war. Kerzen oder Funzeln oder Tranfunzeln zur Sicherheit der Lichtversorgung hatte jeder Haushalt. Und niemand regte sich auf. Die Mühle Sander in Oldendorf betrieb ein kleines Wasserkraftwerk zur zusätzlichen Stromversorgung, das von Herrn Haves bedient wurde, den ich gern besuchte. Dort stank es eigenartig nach Öl und es zischte und rappelte in der kleinen - für mich damals sehr großen – Turbinenhalle..


Das Dorfbild prägend

Was gab es noch in so einem Dorf, was man heute nicht mehr kennt? Für die über 3000 Einwohner gab es die Autowerkstatt und Fahrradladen Habenicht mit der Esso Tankstelle, die damals aber vornehmlich Fahrräder und Motorräder reparierte. Es gab zwei Ärzte (Dr. Müller, Dr. Thies), einen Zahnarzt Dr. Lottermoser (Praxis im Gasthof Funke) - ein Ostpreuße, der mir drei Zähne mit seinem per Fuß angetrieben Bohrer (Antrieb wie früher bei den Nähmaschinen) ruinierte. Zwei Friseure, eine Post (Schulstraße), den Lebensmittelhändler Evers (Dorfstraße), der nach der Bestellung die Hand über den Tresen streckte und sagte „Geld her“. Erst danach gab es die Ware. Auch der überlebte mit seiner Raffgier wirtschaftlich nicht. Zwei Bäcker - Rinne und Schrader - zählte das Dorf. Der Bäckermeister Schrader hatte den Krieg in Russland miterlebt und es war für mich interessant, ihm zuzuhören. Auch sein Sohn Frido wollte schon Anfang der 50er Jahre nicht Bäcker werden.Meine Großmutter regte sich enorm auf, als die Brötchenpreise in der Zeit von zwei auf drei Pfennige erhöht wurden. Und als es dann untersagt wurde, für den Brötcheneinkauf keine eigene Tüte mehr mitzubringen, war sie empört. Heute, über 70 Jahre später, ist das Mitbringen der Verpackung sogar erwünscht. Zeitenänderungen. Einstellungsänderungen.

Schlachtermeister Albert Mund, immer freundlich und ansprechbar auch für uns Kinder ( er gab immer eine Scheibe Jagdwurst), hatte innen in seinem Laden über dem Fenster das Schild hängen, das mich beeindruckte: „Es ist des Metzgers erste Pflicht, nur gutes Vieh zu schlachten. Drum darf die werte Kundschaft nicht, die Knochen stets verachten“. Recht hatte er.

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Die Schlachterei Mund mit dem Rundteil im Hintergrund ( Foto 2016)

Neben der Schlachterei, ein Haus weiter in Richtung Heerstraße, gab es – die Treppe hoch - das kleine Geschäft von Frau Möhring, die alles rund um Kleider, Stoffe, Nähen etc. hatte. Später war dann an der Heerstraße neben der Esso Tankstelle noch das Geschäft von Tini Krage, die Stoffe und den sonstigen Bedarf um Textilien herum anbot. In diesem Zusammenhang: Die Farben der Bekleidung der Bevölkerung war vorherrschend dunkel, grau bis anthrazit. Die Frauen trugen meist waden- bis knöchellange Kleider. Beine gab es nicht zu sehen. Keine Hosen. Die Männer waren ebenfalls dunkel gekleidet. Freundlich helle oder gar grelle Farben hatten Seltenheitswert. 80-jährige, die heute mit moderner Kleidung überall anzutreffen und z.T. noch sportlich aktiv sind, gab es damals nicht. Rentner machten auf mich immer einen „alten“, sehr alten Eindruck.

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Geschäft von Tini Krage - davor Familie Scholling - AltesFoto von Angelika Funke geb. Scholling

Auf der Ecke Kleine Gasse / Hagenstraße gegenüber Heuers baute etwa 1948 der schlesische Kaufmann, Herr Reimann, einen kleinen Laden in Holzbauweise auf dem Grundstück von Renziehausen. Dieser Tante Emma Laden lief über ein Jahrzehnt gut und diente dem Lebensunterhalt der Familie. Hier bekam man alles, Schulhefte, Lebensmittel, etwas zum Schnökern für die Kinder und Bonschen, wie man damals die Bonbons nannte. Ich war oft dort im Laden und holte im Auftrag von z. B. Richard Heuer Zigaretten und zur seiner Freude durfte (besser sollte) ich sie anstecken und den ersten Zug nehmen. Das tat ich auch, hustete jedes mal zur Freude aller Anwesenden. Ich wurde überzeugter Nichtraucher. Zigaretten (Sorte Juno, Golddollar etc.) wurden auch stückweise verkauft. Ebenso kaufte man damals das Bier nicht kisten- oder fassweise, nein, dieses wurde ebenfalls nur flaschenweise geholt. Die Firma Bier-Meyer aus Hameln versorgte die Dörfer mit einem Kleinlaster (ca. 2 to) und hatte Privatleute in den Dörfern, die als Verkaufsstelle dienten. Die Familie Seibert, am Rundteil, war so eine Anlaufstelle. Hans-Georg Seibert, etwas jünger als ich, traf ich viele Jahre später wiederholt bei landwirtschaftlichen Fachtagungen im Elbe-Weser-Dreieck, wo er die Belange der Landwirtschaftlichen Alterskasse vertrat. Er hatte es bis zum Leitenden Verwaltungsdirektor gebracht, ein beruflicher Aufstieg, den nicht jeder erreicht.
Kohlensäurehaltige Limonaden wie sie heute als Massenartikel angeboten werden, gab es damals noch nicht. Sinalco und Coca Cola kamen zögernd auf den Markt. Dafür gab es Brausepulver. In kleinen Papiertüten bekam man für 5 Pfennige Natriumhyrogencarbonat, ein körniges Pulver das mit Zitronensäure-Aroma versetzt war. Der Inhalt einer Tüte - vermischt mit etwas Wasser - ergab ein merkwürdiges Getränk. Wir leckten das Pulver lieber aus der Tüte. Es schäumte im Mund stark und kribbelte ein wenig in der Nase. Das war für uns Kinder in der Zeit um 1950 der Hochgenuss.

evers 14Dann gab es in der Dorfstraße neben Evers noch den „Goldschmied Heuer“. Er wurde so genannt, weil es ihm inzwischen wirtschaftlich so gut ging, dass er sich in den 1950er Jahren mit einem 50 DM-Schein die Zigarette anzündete - dennoch scheiterte er in der Folgezeit. Bei ihm arbeitete der Schmied, Herr Simon, die Seele der Schmiede, der aus Schlesien stammte.

Die Seele der Schmiede und Meister im Hufbeschlag für die zahlreichen Pferde aus Oldendorf und Umgebung. Gern habe ich dieser schweren Arbeit zugesehen und den Geruch des schmorenden Hufes unter dem glühenden Eisen aufgenommen. Die Schmiede war für viele täglicher Treffpunkt zum Oldendorfer Klönschnack. Eine klare Männerrunde. Und ganz ernst ging es da nicht immer zu: Der drahtige Bauer Erich Zocholl aus Ahrenfeld stemmte bei solchen Gelegenheiten auch schon mal den 4 Zentner schweren Amboß. Das gehörte dazu und konnte nicht jeder.

Neuigkeiten tierischer Art holte sich täglich der Dackel Kuckuck von Heuers Melker. Der Vierbeiner zog einmal entlang der Hagenstraße, Heerstraße und zurück über die Dorfstraße. Dieser Melker, er hieß nur Otto, war ein in sich gekehrter Mensch, den ich nie einordnen konnte. Ein sonderbarer Typ. Als meine Tante, die auch bei Heuers wohnte, einmal Besuch von ihrem Schwager aus Buxtehude bekam, wollte Otto von meinem Vetter wissen, woher das Auto kam. Mein Vetter antwortete wahrheitsgemäß: „aus Buxtehude“. Das war zu viel, Otto fühlte sich auf den Arm genommen weil dort „die Hunde mit dem Schwanze bellen“ und mein Vetter musste ganz schnell das Weite suchen.


Es gab auf dem Hagenbrink, den Konsum-Laden, der mit „Kolonialwaren“ handelte. Etwas weiter Richtung Mühle hatte der Sattlermeister Schottel seine Werkstatt. Ein besonders freundlicher Mann. Er schenkte mir zur Einschulung einen alten ledernen Tornister, den ich über die Volksschulzeit hinaus benutzte. Gegenüber auf der anderen Straßenseite hatte Herr Scholling seine Stellmacherei. Ich erinnere mich an seine übervolle Werkstatt, in der er Pferdewagen und zahlreiche Holzgeräte reparierte oder selber herstellte. In seinem Haus wohnte auch Herr Tschischke (oder so ähnlich), der vertrieb für Eduscho Bohnenkaffee und ging im Ledermantel und einer Aktentasche von Haus zu Haus und verkaufte die kleinen Abpackungen.
Am Ende des Hagenbrinks war die Mühle Sander, die damals vom Müllermeister Scholz betrieben wurde und der aus Schlesien stammte. Ihn traf ich zufällig etwa 1970 in Göttingen als ich dort studierte. Er war zuvor mit seiner Familie nach Australien ausgewandert und war zu einem Kurzbesuch in Deutschland.


nitsch 7Die Bäckerei Rinne erweiterte Ende der 1940er Jahre die Bäckerei mit einem Anbau, der Verkaufsraum wurde. Mein Vetter Siegfried Neumann (wohnte damals bei Wöhlers) erlernte das Maurerhandwerk beim Bauunternehmer Griese (damals Osterwalder Str.), und war dort beim Anbau dabei. Schwach erinnern kann ich mich noch, das am Straßenrand beim Bauunternehmer Griese kaputte Panzer standen. Den Schuster Krage gab es noch in dieser Straße Hagenbrink. Ein freundlicher Mann, den ich mit meiner kindlichen Erinnerung verbinde: Werkstatt mit einem besonderen Geruch nach Leder und Kleber, jeder Menge abgewetzte Schuhe, Lederflicken, Holzstiften und Kleber in einer Dose mit verklebtem Pinsel; zwischen all den vielen Schuhen in Regalen und auf dem Fußboden, die zur Reparatur gebracht worden waren, saß er auf seinem Arbeits-Schemel. Auch neue Schuhe verkaufte er. Bereits sein Sohn wollte damals das eigentlich gut laufende Schuhgeschäft nicht weiterführen. Er verließ schon Anfang der 50er Jahre Oldendorf. Bei Krages im Haus wohnte zudem die Familie Dählmann, eigentlich ein Künstler aus Worpswede. Er handelte damals mit Lederprodukten, wie z. B. Lederhosen und fuhr dazu mit einem Motorrad über Land. Sohn Peter war in meiner Grundschulklasse.
Im Haus gegenüber von Heuers wohnte die Familie Radtke, die Getränke verkaufte und im Sommerhalbjahr selber Eis herstellte und dies mit einem Motorrad und Anhänger in den Dörfern anbot. Dem einstigen Kindergarten gegenüber, der noch die olympischen Ringe über der Eingangstür trug, betrieb die Familie Brünger ein Milchgeschäft. Milch, Butter und Sahne wurde hier angeboten und damals gut nachgefragt. Die Milch wurde von Frau Brünger aus einer großen Milchkanne mit einem Messbecher entnommen und in das eigene, mitgebrachte Gefäß gefüllt. Herr Brünger Senior fuhr zudem mit einem Pferd und einem schönen Milchwagen die Milch im Dorf aus. Tragisch war der Tod von Herrn Brünger Junior, der sich das Leben nahm und seine Frau mit der damals kleinen Tochter Sigrid hinterließ. Das Geschäft erlosch darauf bald und Frau Brünger zog mit ihrer Tochter nach Hannover.
Weiter in der Hagenstraße: Der Klempner Sandvoss hatte seine Werkstatt im Nebengebäude der alten Molkerei. Werkstattfahrzeug: Fahrrad mit Anhänger. Damals war dort zeitweise noch die Firma Sieling aus Hannover untergebracht, die u. a. Treibriemen für Maschinen herstellte. Atzi Thies hatte ein Grundstück weiter seinen Schrotthandel. Zunächst in Klein-Oldendorf, später an der Dorfstraße auf dem ehemaligen Hof Wöhler war der Getreidehandel der Fa. Paul Wahner, ein schlesischer Kaufmann „nach altem Schrot und Korn“.
nitsch 10Daneben gab es noch Tätigkeitsfelder, die gelegentlich ausgeführt wurden, wie zum Beispiel den Hausschlachter. Die hatten im Winter viel zu tun, denn viele Familien im Dorf hielten sich noch Hühner, Ziegen oder auch Schwaane (Schweine, die Ferkel nannte man Ötjen oder auch Ötschen) zur Eigenversorgung und hatten eine eigene Miste (Misthaufen), die wiederum der Gartendüngung diente. Das war für uns Kinder immer aufregend, wenn bei Heuers oder in der Nachbarschaft draußen auf dem Hof ein Schwein geschlachtet und draußen im hölzernen Schwaanetrog verarbeitet wurde. Nachbarn bekamen dann einen Topf voll Brühe oder eine Brägenwurst ab. Und Kinder, die dem ganzen Geschehen neugierig zusahen, wurden auch schon mal - ähnlich wie am ersten April - von den Erwachsenen in die Irre geführt und sollten vom z.B. Nachbarn eine Sülzepresse holen. Bürgermeister Schwenke vollzog die amtliche Trichienenschau und stempelte das geschlachtete Schwein mit amtlichen Siegel, den er neben dem Stempelkissen in einer kleinen Blechdose mitführte, ab. Daran angeschlossen gab es in der heutigen Dorfstraße (schräg gegenüber dem Dorfkrug) die Witwe Habenicht, die ihre zwei Söhne u. a. dadurch ernährte, dass sie für die Oldendorfer leere Konservendosen verkaufte und eine von Hand betriebene Maschine besaß, mit der sie dann die gefüllten Wurstdosen luftdicht verschloss. Wieder ein Beispiel für eine Überlebensmöglichkeit in damaliger Zeit.
Die Bankgeschäfte für die umliegenden Dörfer wurden über eine „Spar- und Darlehnskasse“ (neben der Kirche) mit nach heutigen Maßstäben primitiver Büroausstattung und nur zwei Mitarbeitern abgewickelt. Einen Dorfpolizisten gab es auch. Der hatte sein Büro im Nachbardorf Benstorf. Sein Dienstfahrzeug war das Fahrrad.


Der Gemeindebote

nitsch 6Im Dorf wurden die amtlichen Neuigkeiten der Gemeinde nicht etwa über den amtlichen Teil der Zeitung mitgeteilt, nein, dafür hatte die Gemeinde ihren Gemeindeboten, damals Herrn Brewes. Mit dem uralten, rostigen Fahrrad und einer Handglocke fuhr er zu bestimmten Tagen und Zeiten durchs Dorf, hielt an bestimmten Stellen an, klingelte mit seiner Handglocke, die aus Messing war, und begann die Mitteilung mit dem Satz: „Bekanntmachung! Ich und der Bürgermeister geben bekannt“ und dann folgten die Mitteilungen, die er von einem Zettel ablas. Wie kam das bei der Bevölkerung an? Gut. Die Dorfbewohner machten die Fenster auf und hörten zu. Wir Kinder rannten in die Nähe dieser Amtsperson, die sich sehr wichtig vorkam, und guckten ebenfalls neugierig, so ähnlich, wie es die nebenstehendes Bild darstellt. Das war eine andere Zeit.

Wirtschaftsaufschwung – Strukturwandel

Fast alle Handwerker hatten damals zunächst einen goldenen Boden, aber sie gaben ab den 1960er Jahren ihre Unternehmen zunehmend auf, da mit dem Wirtschaftsaufschwung bestimmte Berufe nicht mehr gefragt waren oder aufgrund zu geringer Margen die Betriebe immer mehr umsetzen und wachsen mussten, was aber nicht für alle möglich war. Das galt ebenso für zahlreiche landwirtschaftliche Betriebe. So wie die Betriebe aufgrund des gewaltigen Strukturwandels aufgeben mussten, traf es auch viele Nichtselbständige, die ihre neuen Berufe in der näheren Region oder in anderen Bundesländern fanden und Oldendorf verließen oder auch neu hinzu kamen, die neue Form der Bevölkerungsbewegung. Kein Kriegsgrund, sondern wirtschaftlich, beruflich begründet. So verschwinden über die Jahre im Dorf einst einheimische Familiennamen und neue, mit nicht regionsspezifischen Namen etablieren sich. Alles ist im Fluss.

Bremervörde im Mai 2022
Dr. sc. agr. Albrecht Nitsch;

Zur Person: 1943 in Königsberg geboren, 1945 bis 1946 Internierungslager Öxböl in Dänemark. Danach bis September 1953 in Oldendorf, anschließend in Ahrenfeld gewohnt. Landwirtschaftliche Lehre, Abitur. Reserveoffizier der Bundeswehr. Studium der Agrarwissenschaft in Göttingen. Promotion im Bereich Pflanzenzüchtung 1975. Danach ein Jahr Tätigkeit beim Landwirtschaftsministerium in Baden-Württemberg. Ab 1976 bei der Landwirtschaftskammer Hannover / Niedersachsen in Bremervörde. Gutachter und Autor zahlreicher Fach-Publikationen.
Seit 2008 lebe ich mit meiner Frau Helga – eine „Einheimische“ aus Bad Pyrmont - im Ruhestand. Wir haben einen Sohn und eine Tochter sowie 3 Enkelkinder. Ihre Berufe haben auch sie von ihrem Geburtsort Bremervörde nach Goslar und Landsberg am Lech gebracht.

Anmerkung zur Schuhcreme: https://de.wikipedia.org/wiki/Nigrin_(Marke)

Anmerkung: Die Gemeindeglocke der Gemeinde Oldendorf wurde aus der letzten Kuhglocke aus dem Besitz von Richard Heuer hergestellt. Leider hat der Flecken Salzhemmendorf die Glocke nicht an die Familie zurück gegeben, da alle schriftlichen Unterlagen der Gemeinde Oldendorf verbrannt wurden.

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